In ganz Deutschland wird seit hunderten von Jahren zu Weihnachten in den Kirchen die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium gelesen.

In ganz Deutschland? – Nein! – Nicht in einem kleinen ostfriesischen Dorf im äußersten Nordwesten der Republik, so klein, dass es auf keiner Landkarte zu finden ist, in Kleinunixwardersiel.

Dort liest der Pastor in der kleinen Kirche seit einigen Jahren zu Weihnachten die Weihnachtsgeschichte von Ole. Und das kam so:

Jeder im Dorf kennt Ole. Kein Wunder werdet ihr sagen, in einem 600 Seelendorf kennt jeder jeden. Aber Ole ist jemand besonderes. Es wäre gemein und außerdem falsch, ihn den Dorftrottel zu nennen. Sicherlich, er ist etwas einfältig, etwas langsam im Denken und Handeln. Und deshalb hat er nur fünf Schulklassen durchgemacht, aber jede 2x. Und so hat er auch nichts gelernt, keinen richtigen Beruf zumindest. Doch Ole ist lieb, lieb zu den Alten und Kranken, lieb zu den Kindern, lieb und hilfsbereit zu jedem im Dorf, lieb zu den Tieren der Bauern, lieb zu den Tieren im Wald. Ole ist wie ein leuchtendes Licht. Und deshalb mag ihn wirklich jeder.

Und dann kam der Tag an dem sich ganz viel änderte in Kleinfunixwardersiel, der Tag, an dem Ole ein neues Licht anzündete. Die Leute aus Kleinfunixwardersiel hatten den Ehrgeiz, dass sie jedes Jahr zu Weihnachten ein neues Krippenspiel aufführten. Die Leitung hatte dabei seit KleinFunixwarderSieler Gedenken die alte Tomke, die pensionierte Lehrerin.

Für das neue Krippenspiel brauchte sie einen Wirt, kräftig und robust von Gestalt, reden musste er nicht viel, aber beeindruckend sollte er schon sein. Der Hufschmied, der diese Rolle immer gespielt hatte, war krank und ein Nachfolger fand sich so leicht nicht. Da kam Tomke der Gedanke: Ole. Groß und stattlich war er ja, und reden – wie gesagt – musste er nicht viel.

Ole war vor Freude ganz aus dem Häuschen, als Tomke ihn fragte. Er durfte im Krippenspiel mitspielen, im berühmten Kleinfunixwardersieler Krippenspiel, und in einer Hauptrolle. Er nickte nur ganz begeistert mit dem Kopf, vor lauter Begeisterung brachte er keinen Ton heraus.

Es blieben noch 10 Wochen zum Üben, aber 10 Wochen können ganz schnell vorübergehen, wenn man solch ein großes Ziel vor Augen hat. Wenn die schwangere Maria und Josef bei ihm anklopften, musste er sagen: „Nix frei!“ Und wenn sie dann traurig um Barmherzigkeit bettelten, musste er den Arm mit ausgestrecktem Finger ausfahren und sagen: „Haut ab!“ – Vier Worte nur, aber je länger und je mehr sich Ole in die Rolle hinein dachte, desto schwerer erschien im die Rolle. Und er spielte nicht nur einmal mit dem Gedanken, Tomke abzusagen. Aber dann sagte er sich: „zugesagt ist zugesagt.“

Der Heiligabend, der Tag der Aufführung, kam. Die Kirche war – wie jedes Jahr Weihnachten – bis in den letzten Winkel besetzt. Die Kinder hatten gerade „Stille Nacht, heilige Nacht“ gesungen. Maria und Josef, gebeugt, offensichtlich geschwächt und frierend, klopften an die Herbergstür. Die Tür öffnete sich und heraus trat, groß und mit überkreuzten Armen der Wirt – Ole: „Nix frei“ tönte er lautstark. Marie und Josef baten und bettelten um Barmherzigkeit, aber vergebens. Als Ole den Arm mit dem ausgestreckten Zeigefinger ausfuhr, wandten sie sich schon ab und gingen. Aber auf einmal wurde der Finger ganz schwach und langsam formte sich eine Hand, eine winkende Hand. „Hallo Josef, du auch, Maria. Ihr – ihr könnt meine Stube haben!“ – Totenstille. Sogar die raschelnden Mäuse im alten Kirchengebälk hielten inne. – Und dann klatschte einer, und dann brach ein Sturm der Begeisterung los. Und die Organistin haute in die Tasten und noch nie hat man in Kleinfunixwardersiel so schön „O du fröhliche“ gesungen. Und seit dieser Weihnacht liest man in Kleinfunixwardersiel in der Kirche zur Weihnacht die Weihnachtsgeschichte von Ole.

© Klaus J. Uhlmann